1/1999
(Jan./Feb.) – SCALA – von Jürgen Kesting
Die letzte Primadonna
Maria Callas nannte
sie einst ihre würdige Nachfolgerin. Die spanische Sopranistin Montserrat
Caballé zählt zu den größten Sängerinnen unseres Jahrhunderts.
Für
die Erinnerung hat die Zeit keine Bedeutung. Wenn eine Primadonna Abschied
nimmt, mit einem letzten und einem allerletzten Konzert, schließlich mit dem endgültig
letzten – fällt der verklärende Glanz der Erinnerung über alle Wehmut. Mit
nobler Nachsicht notierte denn auch der Schriftsteller George Bernard Shaw über
die zehn Jahre lang Abschied feiernde Adelina Patti: „Time has transposed her a
minor third.“ Eine Umschreibung des unabwendbaren biologischen Schicksals: Die
Stimme der Primadonna war im Verlauf von vier Jahrzehnten um eine kleine Terz
gesunken.
Montserrat
Caballé füllt die Suite im Berliner „Westin Grand Hotel“ mit Perlenketten des
Lachens. „Ich stehe jetzt seit 42 Jahren auf der Bühne“, sagt die spanische
Diva, „und es ist nur natürlich, daß man bei der Auswahl der Musik darauf
achten muß, innerhalb seiner persönlichen Grenzen zu bleiben. Ich habe in
meiner Laufbahn 102 Rollen gesungen. Es kamen ständig neue hinzu und Wechsel in
ein weiteres Fach; irgendwann muß man klug genug sein, sich auf das zu
konzentrieren, was man noch gut singen kann.“ Ist das hohe C irgendwann
plötzlich weg? Und wie kündigt sich das an? „Nein“, erwidert sie, „man hat es
noch, aber (glucksendes Lachen) es klingt einfach nicht mehr gut.“
Sie
hat sich – „auch das können sie als ‚Transposition’ ansehen“ – vor zehn Jahren
nach einer Kette von Erkrankungen und Eingriffen von der Opernbühne
zurückgezogen. 1969 wurden sie am Knie operiert, 1974 mußte ein Krebstumor
entfernt werden, 1976 und 1982 erfolgten Nieren-Operationen, 1983 erlitt sie
eine Herzattacke. Sie komme sich, hat sie gesagt, wie Phoenix vor – jener mythische
Vogel, der verbrennt und aus der Asche aufersteht.
Da
sie aber seit Beginn ihrer Karriere regelmäßig Liederabende gegeben hatte, war
der Wechsel aufs Podium „für das Publikum nichts Neues und für mich kein
Problem“. Erleichtert wurde er durch die breiten Brücken des Crossover, über
die sie – etwa in Barcelona mit Rock-Sänger Freddie Mercury – oft gegangen ist.
Das Repertoire, sagt sie, „ist unerschöpflich, man muß sich nur das aussuchen,
was man gut serviert. Wenn man nicht länger die großen Arien von Verdi singen
kann, muß man eben Cherubini singen. Oder Händel. Was erhalten bleiben muß, ist
das ‚Smalto’.“ Damit ist der Klang der Stimme gemeint, die emailleglatte Lasur.
Bei ihrer aktuellen Tournee hat sie es mit aller und alter Kunstfertigkeit
vermieden, „den Gang über jene Brücke zu gehen, wo der Klang nicht mehr schön
ist“. Und wenn sie auf der begleitenden neuen CD – „With All My Heart“ (von
ganzem Herzen) – eine Vokalise auf die Schwanen-Melodie aus Camille Saint-Saëns
„Karneval der Tiere“ singt oder die Arie der Gabriella Di Vergy aus Gaetano
Donizettis gleichnamiger Oper, so beweist sie, daß sie mehr hat bewahren können
als nur „schöneren Reste ihrer Stimme“ (George Bernard Shaw über Adelina
Patti). In der elegischen Donizetti-Arie singt sie sogar einen Triller, der
einst nicht zu ihrem technischen Arsenal gehörte.
Sie
betont, daß es der schwere Beginn war, der ihr die spätere Laufbahn erleichtert
hat. Jeweils drei Jahre hat sie an kleineren Theatern verbracht, in Basel unter
der Ägide des Dirigenten Silvio Varviso, in Bremen unter der von Gerd Albrecht.
Es waren Dirigenten, „die auf die Sänger aufgepaßt haben. Ich hatte
Chrysothemis und Salomé gesungen. Als mir auch die Elektra angeboten wurde, hat
Albrecht zu mir gesagt: ‚Bitte, machen sie das nicht, sie sind eine wunderbare
Chrysothemis, und sie werden möglicherweise in zehn Jahren eine Elektra sein.’
Das war ein guter Rat. Ich war ein lyrischer Sopran, vielleicht mit dem
dramatischen Akzent der spanischen Gesangsschule, wie es seit Manuel Garcia
gelehrt wir.“
Daß
die Gesangspädagogin Blanche Marchesi einst an Richard Strauss geschrieben
hatte, sie rate allen ihren Schülerinnen von seiner Musik ab, bis er „endlich
für die menschliche Stimme“ schreibe, entlockt ihr erneut eine Lachkaskade: „Ich
liebe die Rollen von Strauss. Ich habe mit seinen Liedern begonnen, und ich
bedauere, daß mir seit Mitte der 60er Jahre seine Opernrollen immer seltener
angeboten worden sind. Mit Mozart und Strauss habe ich begonnen.“ Die Ansicht
der Marchesi sei nur aus der damaligen Zeit und Ästhetik zu verstehen und
daraus, daß die Sängerinnen sich noch nicht an die Strauss’sche Verschmelzung
von Stimme und Orchester gewöhnt hatten. „Es hat immer einige Zeit gebraucht,
bevor Sänger ihre Technik einem neuen musikalischen Stil angepaßt haben.“
Für
sie sei der Beginn mit Mozart und Strauss ideal gewesen. Über 400mal hat sie
allein die Elvira in „Don Giovanni“ gesungen. Mitte der 50er Jahre war sie, wie
die ein Jahr jüngere Marilyn Horne („die größte, die einzige Rossini-Sängerin
unserer Zeit“), eine Ensemble-Sängerin, die all das singen mußte, was auf den
Spielplan kam – auch Rollen, mit denen sie dem Publikum einen „schlechten
Service“ bot. In Basel hat sie als Mimì debütiert (17. November 1956), dann
kamen Pamina und Nedda, Chrysothemis und Donna Elvira. Nie folgte sie der
ahnungslos-anmaßenden Idee, erst die eigene Persönlichkeit zu entwickeln, bevor
sie sich an anderen orientierte. „Wie kann man Meister werden, ohne von
Meistern zu lernen?“
Gerade
ihre endlos ausgesponnenen Pianissimi waren das Ergebnis einer produktiven
Anverwandlung durch härteste Arbeit: „reines Training mit tiefer
Zwerchfellatmung“. Die Anregung hatte sie durch die Plattensammlung ihres
Vaters bekommen. Darin fanden sich viele Aufnahmen des Tenors Miguel Fleta,
dessen Filature – endlos ausgesponnene Endnoten – sie tief beeindruckten (Zu
hören auf Preisser 89002). Für sie wurde es „zu einer wahren Obsession“,
ähnliche Phrasierungen zu bilden und Ton-Fontänen zu fluten; ihre Lehrerin
Eugenia Kémény, hatte ihr immer wieder gepredigt, daß die Stimme nicht auf dem
Atem sitzen darf, sondern auf ihm fluten muß.
Während
des Studiums hatte sie Renata Tebaldi gehört und das Gefühl gehabt,: „Sie singt
ihre Pianissimi wie Miguel Fleta.“ Als die Tebaldi nach Barcelona kam, um
Manon, Traviata, Tosca und Aida zu singen, war sie hingerissen von den „großen
Bögen und der Klangentfaltung“. Allen Platten von Rosa Ponselle, die sie
auftreiben konnte, hat sie staunend und hingerissen gelauscht. Sie hat „das
exquisite Timbre“ ihrer spanischen Kollegin Victoria De Los Angeles bewundert, „sie
war unvergleichlich im französischen Fach, als Manon, als Marguerite und als
Carmen, obwohl sie gar nicht die Stimme für Carmen hatte.“ 1957 erlebte
Montserrat Caballé die in Basel gastierende Elisabeth Grümmer, die sie bis
dahin nur von Platten kannte. Die Maßstäbe setzten Elisabeth Schwarzkopf, sie
sie 1969 in Barcelona als Marschallin genoß, und Lisa Della Casa als Arabella.
Frau
Caballé gerät ins Schwärmen und komponiert jene vollkommene Stimme, die es nie
gegeben hat. Eine Stimme mit „der dunklen Farbe der De Los Angeles, mit der
stählernen Kraft der Nilsson, der Bravour der Sutherland“. Ob sie da nicht viel
zu viel verlange? „Es ist erlaubt (perlendes Lachen), alles zu träumen – und vieles
zu versuchen.“
Und
was war mit Maria Callas, die in der Spanierin ihre einzige Nachfolgerin
gesehen hat? „Die erste Aufnahme, die ich von ihr gehört habe, war Lucia. Ich
habe ihr zwei, drei, viel Mal gelauscht und mochte nicht glauben, was ich
vernahm. Von all den anderen konnte ich das eine oder andere technische Detail
lernen. Was ich von Maria Callas lernen konnte, war die Wahrheit des Ausdrucks;
nicht das Suchen nach Ausdruck, sondern Ausdruck zu haben.“
Es
war im Jahre 1965, daß sie die Terra Incognita betrat, die von Maria Callas neu
entdeckt worden war: die Welt der romantischen Belcanto-Oper. Während sie in
Barcelona eine Aufführung von Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“ einstudierte,
wurde sie gebeten, nach New York zu kommen und die Titelpartie in Gaetano
Donizettis „Lucrezia Borgia“ zu übernehmen. Sie sollte Marilyn Horne ersetzen,
die damals ein Kind erwartete. „Als ich die Laufpassagen sah, habe ich nicht
geglaubt, das jemals singen zu können.“ Dem Dirigenten Carlo Felice Cillario,
mit dem sie seinerzeit die Puccini-Oper einstudierte, erklärte sie mutlos: „Ich
habe nicht diese Technik.“ Er bat sie daraufhin, „Come Scoglio“ zu
interpretieren, die Arie der Fiordiligi aus Mozarts „Così Fan Tutte“. Und
während sie die langen triolischen Laufpassagen am Ende der barock-prunkvollen
Arie sang, meinte der Dirigent: „Siehst du, daß du das singen kannst!“
Also
ist sie nach New York gegangen und hat (ein glucksendes Lachen) „Donizettis
Koloraturen gesungen wie die von Mozart. Man hat mich als Belcanto-Spezialistin
bezeichnet, es war wie ein Schock für mich, ich hatte mich ja auf ein völlig
fremdes Terrain begeben.“ Aber sie war angekommen. Noch im selben Jahr nahm sie
die Rolle, mit der sie den Status des Stars erreicht hatte, unter Jonel Perlea
auf – mit Shirley Verrett als Orsini und Alfredo Kraus als Gennaro. Trotz
vereinzelter Unsicherheiten in der Fioritura – ihre superben Pianissimi waren
eine Sensation, und die Verträge prasselten fortan auf sie nieder. Sie sang
Imogene in „Il Pirata“ (1966), Violetta in „La Traviata“ (1967), Salomé (1968)
und das Verdi-Requiem (1969); legte Recitals mit Raritäten von Rossini,
Donizetti und Verdi vor, die enthusiastisch gefeiert wurden.
In
den folgenden Jahren sang sie viele zentrale Partien von Mozart, Rossini, Bellini,
Donizetti, Verdi, Puccini, Boito, Leoncavallo und Mascagni. Leider wurden
einige Aufnahmen so rasch produziert, daß man „das Messer zu hören glaubte, mit
dem die Partituren während der Arbeit im Studio aufgeschnitten wurden“. Nun
gibt s in dieser Welt, schrieb Oscar Wilde, „nur zwei Tragödien. Die eine ist,
nicht zu bekommen, was man möchte, die andere liegt darin, es zu bekommen.“
Der
Traum von zwei großen Rollen hat sich für Montserrat Caballé nicht erfüllt. Sie
hätte allzu gern die Leonore in Beethovens „Fidelio“ gesungen und die Elektra
von Richard Strauss. Zugleich weiß sie, daß ihr dadurch ein größeres Unglück
erspart geblieben ist: „Diese Partien sind zu dramatisch für mich.“ Von zwei
bereits zugesagten Rollen ist sie auf Rat von Maria Callas, die sie 1970 zum ersten
Mal getroffen hat, zurückgetreten. Zu Beginn der 70er Jahre wurde ihr die
Abigaille in „Nabucco“ angeboten – eine hybride Partie insofern, als sie die
Agilität einer Bellini-Heroine und die Energie einer Wagner-Brünnhilde
verlangt. „Das wäre so“, hat ihr die Callas gesagt, vielleicht eingedenk selbst
begangener Fehler, „als würde man Baccarat-Glas in einem Mixer schütteln. Es
würde brechen.“ Auch an die Lady Macbeth, die sie an der „Scala“ singen sollte,
hat sie sich, wieder von Maria Callas gewarnt, nicht gewagt.
Hingegen
hat sie mit Butterfly und Turandot, von vielen ihrer Kolleginnen als „Killer-Partien“
gefürchtet, „wenig Probleme gehabt“. Auch hier, betont sie, muß die Stimme „nach
der klassischen Technik geflutet werden – Forcieren wäre tödlich“. Daß man
einen Fehler gemacht hat, merke man immer erst dann, wenn man die Folgen spürt.
Riccardo Muti war auf die Idee verfallen, die Santuzza nicht einem dunklen,
brustigen Sopran zu übertragen, sondern einer jugendlicheren Stimme. Sie hat
sich von dieser Idee verleiten lassen, aber schon bei den Proben festgestellt, „daß
ich das nicht singen sollte. Es war in Philadelphia, und ich hatte einen
Vertrag, also mußte ich’s machen. Aber ich habe gemerkt, daß ich dem Publikum
keinen guten Dienst erwiesen habe.“
Wer
die spanische Diva je im Theater gehört hat, weiß, daß gerade ihre Pianissimi
weithin tragen, daß sie, wie auf einem fliegenden Teppich, in die höchsten
Ränge hinaufschweben. „Wer keine richtige Technik hat“, sagt sie, „kann nur
mezzoforte und forte singen. Und wer eine richtige und vollständige Technik
hat, kann alles singen – er ist in der Lage, seine Technik mit der Manier oder
dem Stil des Komponisten zusammenzuführen. Doch wer den Stil eines Komponisten
erfaßt, kann, sofern die Technik stimmt, alles singen. Die einzigen Grenzen,
die es gibt, sind die physischen.“
Eine
Rolle, die ihr Schwierigkeiten bereitet hat, war die Leonora in Giuseppe Verdis
„La Forza Del Destino“. Der zweite und vor allem der dritte Akt verlangen eine
mächtige Klangentfaltung, um über das Orchester hinwegzukommen. Zehn, zwölf
Minuten müsse die Stimme der Leonore so etwas wie eine „Klangsäule“ errichten. „Das
war ein Kampf. Ich habe genau abwägen und arbeiten müssen, um den Klang zu
halten.“ Hat sie sich mit einigen der frühen Verdi-Partien – mit den
Titelrollen in „Giovanna D’Arco“ oder in „Luisa Miller“ – leichter getan? „Leicht?
Die Komponisten haben es uns nie leicht gemacht.“
Die
temperamentvolle Spanierin wurde mit dem Satz zitiert, daß sie Luciano Pavarotti
für den größten Tenor der Welt halte – und daß Plácido Domingo der größte Tenor
der Welt sein könne, wenn er wolle. José Carreras, den sie zu Beginn seiner
Karriere in den frühen 70er Jahren gefördert hat, sei ein großer Tenor. Mit
allen dreien hat sie auf der Bühne gestanden, und die beste Abstimmung und
Mischung des Klangs mit Domingo erreicht. „Vielleicht war es eine Frage der
Herkunft, der Schule, der Technik, der Attacke. Wenn wir die Duette in Aida, in
Mefistofele oder in Bohème gesungen haben, bekam das wirklich eine eigene
Farbe.“ Wie Vino Di Rioja? Sie freut sich über den Vergleich. „Ja, ja“.
Natürlich hat sie auch erlebt, daß sich ihre Stimme nicht mit der eines
Partners mischen wollte – zum Beispiel mit Alfredo Kraus in Bellinis „I
Puritani“ unter Muti.
Anders
als viele Kolleginnen, die älter werden und nicht klüger, ist sie weise, witzig
und selbstironisch. Fernsehauftritte bei TV-Supernase Thomas Gottschalk in „Wetten,
daß?“ sind ihr keine Pflicht, sondern ein sichtliches Vergnügen. Von ihrem
Handicap, das sich auf jeder Waage ablesen läßt, spricht sie selbst ungeniert.
103 Kilo wiege sie, und sie wisse, daß es nicht gerade leicht sei, ihr „eine an
Schwindsucht sterbende Violetta abzunehmen“. Dem hält sie entgegen, daß die
Handlung auf der Bühne durch den Gesang geprägt wird. „Schon Maria Callas
sagte: ‚Im Klang müssen die Worte und das Drama spürbar werden.’ “
Mit
Wehmut registriert die 65jährige aber, daß „heute nicht mehr die großen
Persönlichkeiten im Mittelpunkt einer Aufführung stehen“. Es gebe nicht mehr
den Scarpia von Tito Gobbi, nicht mehr die Norma von Maria Callas, sondern von…“.
Sie hält inne und überlegt…“sondern von Regisseur X. Verdi, Puccini oder Wagner
existieren nicht mehr.“ Die Klage über die Welt ist immer die Klage derer, die
Abschied nehmen.