1997
Montserrat Caballé
"Der Tumor ist für mich eine Katastrophe"
Sie ist eine der
grössten Diven der Welt. Nach Jahrzehnten auf der Opernbühne orientierte sie
sich neu - und ist ausgebucht wie nie zuvor.
Interview:
Michael Merz
Facts: Frau Caballé,
die grosse Sängerin Mara Zampieri sagte auf die Frage, was für eine Stimme sie
denn gern hätte, in einem FACTS-Interview: "Sie müsste die Schönheit der
Stimme der Caballé haben und den dramatischen Ausdruck der Callas."
Montserrat Caballé:
Sie hat Recht. Das möchte ich auch. Aber es bleibt ein Traum.
Facts: Wann haben Sie
denn gemerkt, dass Sie dieses unglaubliche Stimmtimbre haben?
Caballé: Ich selbst
habe es nicht gemerkt. Ich sang, und mir begannen die Leute zu sagen: "Ah!
Was für eine schöne Stimme!" Selbst wenn ich bloss Stimmübungen machte,
die Geläufigkeit übte, kamen solche Kommentare.
Facts: Also schon in
der Ausbildung?
Caballé: Ich besuchte
das Konservatorium in Barcelona, gleich neben der Oper und dem Liceo der Stadt.
Da hatte ich Gelegenheit, die ganz grossen Stimmen meiner Jugend zu hören.
Renata Tebaldi, Anita Cerquetti, Virginia Teani - das waren nicht Stimmen, es
waren Wunder! An meiner Schule hörte ich Tag für Tag die Stimme der Victoria de
los Angeles. Ein Klang wie Seide und Samt, von unten bis oben. Das waren für
mich schöne, fantastische Stimmen. Dass man über meine Stimme dasselbe sagte,
das erstaunte mich und machte mich auch irgendwie ratlos, denn ich hatte bis
dahin meine Stimme noch nie "gehört".
Facts: Sie sprechen
jetzt von den frühen fünfziger Jahren, als es noch kaum Tonband-Aufnahmegeräte
gab?
Caballé: Es ist
wirklich über vierzig Jahre her. Erst in meiner Anfängerzeit in Basel hat mich
dann eine Freundin aufgenommen. Ich sang die Nedda in "Pagliacci",
und als ich das am nächsten Tag hörte, war ich unglaublich enttäuscht. Denn
das, was ich hörte, hatte nichts mit dem Ton zu tun, den ich höre, wenn ich
singe. Das dumme Band nimmt etwas ganz andres auf.
Facts: Das heisst,
Sie selbst hören sich viel toller?
Caballé: Nein,
anders. Ein Sänger spürt ja auch die Vibration und die Resonanzen des eigenen
Tons. Dieser Ton gehört einem, man kennt ihn. Mein Klang ist für mich so rund
wie eine Kuppel, und er hat im Gegensatz zur Stimme auf dem Tonband eine
Sinnlichkeit.
Facts: Aber nach
einer Weile haben Sie sich damit abgefunden, Sie bekamen Sicherheit?
Caballé: Sicherheit?
Hatte ich nie. Wann immer ich eine neue Rolle angegangen bin, war dies für mich
eine grosse Belastung. Ich erinnere mich an mein Debüt in Basel. Ich sang die
Mimi in "La Bohème". Der letzte Ton meiner Arie des ersten Aktes
gelang mir nicht so schön, wie ich es mir vorgenommen hatte. Ich hockte also in
meiner Garderobe und weinte. Wie immer war meine Mutter da, und als ich schluchzte,
"meine Karriere ist zu Ende", da tröstete sie mich und sagte:
"Mach doch erst den zweiten Akt, und dann sehen wir weiter." Und
natürlich ging es. Aber mit jeder neuen Rolle, mit jedem neuen Auftritt blieb
es dasselbe. Ich habe mich immer gefragt, ob ich wohl bis zum Ende durchkommen
werde. Es braucht eine so unheimliche Kraft, und diejenigen, die nicht diesen
Beruf haben, können sich kaum vorstellen, was es braucht. Nein, ich war nie
sicher, wenn ich auf die Bühne ging. Dann aber, wenn ich da draussen stehe,
dann geschieht etwas, was ich nicht erklären kann. Ich fühle mich zu Hause. Und
ich bin für diesen Moment frei. Nur kommt dann dummerweise immer wieder eine
Pause, und schon haben mich die Angst und die Zweifel wieder in ihrer Gewalt.
Ist der Abend zu Ende, bin ich nie glücklich. Ich bin erschöpft und kaputt.
Seelisch ist man leer und zutiefst unglücklich. Noch zwei oder drei Stunden
später fallen einem all jene Dinge ein, die nicht gelungen sind.
Facts: Wenn ich Sie
so höre, wird mir klar, weshalb Sie immer weniger in Opern auftreten.
Caballé: Nein, das
ist nicht der Grund.
Facts: Was denn?
Caballé: Dass man bei
mir 1985 einen Tumor im Gehirn diagnostizierte. Er sei zwar nicht bösartig,
aber für mich war und ist er eine Katastrophe. Es passierte, dass mir vor
lauter Überdruck die Hirnflüssigkeit aus der Nase und den Augen lief. Es war
ein Alptraum. Und es war lebensgefährlich! Man hat mir diese Diagnose in New
York gestellt und mir damals eine Lebenserwartung von einem Jahr vorausgesagt.
Natürlich wollte ich das nicht wahr haben, und darum liess ich mich auch in
Stockholm und Barcelona untersuchen. Die grössten Chancen räumten mir die
Spanier ein: Noch drei bis fünf Jahre würde ich leben können.
Facts: Das ist zwölf
Jahre her, und Sie leben noch.
Caballé: Ich hatte
Glück im Unglück. In New York wollten sie mich sofort operieren. Aber ich
wollte das nicht. Also konsultierte ich jedes Spital, jeden Spezialisten mit
einem guten Ruf, von dem ich hörte. So kam ich nach Europa, wo mich alle
Neurologen, die ich aufsuchte, auch operieren wollten. Bis ich dann in Zürich
Professor Yasargil traf. Der untersuchte mich nochmals ganz von vorne.
Facts: Wohl kaum eine
angenehme Prozedur?
Caballé: Sicher
nicht! Alle drei Monate musste ich in diese "Resonanz-Magnetic-Nuklear-Maschine".
Wie passt eine so voluminöse Person wie ich in eine so enge Röhre? Kein Scherz:
Ich musste mich so unglaublich dünn machen, und ich bin vor Platzangst fast
gestorben, denn man bleibt endlos lange in dem Ding drin.
Facts: Und das Ergebnis?
Caballé: Es wurde
eine Laser-Behandlung versucht. Bis heute werde ich alle acht oder neun Monate
erneut untersucht. Der Tumor ist unverändert in seiner Lage und Grösse.
Ausserdem haben mir die Ärzte geraten, dass ich keinesfalls Sachen machen sollte,
die mich zu stark aufregen, mich unter Spannung stellen und damit in meinem
Kopf einen Überdruck entstehen lassen.
Facts: Darum
"Oper ade"?
Caballé: Ich hatte
Verträge bis 1991. Das war von 1985 aus betrachtet eine lange Zeit. Ich habe
langsam abgebaut - entweder gelang es mir, die Verträge aufzulösen, oder ich
habe sie eingehalten. Die ersten zwei Jahre waren wirklich schwer. Heute kann
ich darüber sprechen - aber damals... Ich habe versucht, meine persönlichen und
finanziellen Angelegenheiten zu regeln. Ich versuchte, ein Testament zu
schreiben, damit nach meinem Tod nicht das Chaos ausbricht. Und ich versuchte,
mir noch einen Traum zu erfüllen: Ich wollte die Isolde in "Tristan und
Isolde" singen, bevor ich ganz mit der Oper aufhörte.
Facts: Das haben Sie
gemacht. Und jetzt ist es vorbei mit der Oper?
Caballé: Ich glaube
schon. Wissen Sie, das Anstrengendste an der Oper sind die Proben: Man arbeitet
einen Monat oder länger vormittags, nachmittags und abends, und dazwischen
fällt noch irgendein Konzert. Dieser Druck ist weg. Fast weg. Ich singe nur
noch drei oder vier Galas. "Tosca" oder "Ariadne", die Mimi
in "La Bohème".
Facts: Ich habe aber
nicht den Eindruck, dass Sie sich zurückziehen.
Caballé: Das hat mich
selber gewundert. Ich bekomme für Konzerte mit Orchester, für Liederabende, für
Special Events eine unglaubliche Zahl von Anfragen. Ich bin ständig am
"Nein"-sagen. Aber trotzdem bin ich innert weniger Wochen in Europa,
Asien und Amerika. Manchmal habe ich den Eindruck, ich hüpfte wie ein Känguru
durch die Welt.
Facts: Aber es war
schwer, die Krankheit zu akzeptieren?
Caballé: Klar. Ich
stand erst wie unter Schock. Und dann starb 1987 auch noch meine Mutter. Sie
war der grosse Baum, unter dessen Schutz ich und die ganze Familie, unser Clan
gelebt hatte. Sie hatte mich seit meinen Anfängen in
Basel immer begleitet. Sie wollte auch, dass ich das Duett
"Barcelona" mit Freddie Mercury singe. Sie sagte: "Nur so bleibt
von dir und deiner Musik auch etwas für die Menschen, die Popmusik lieben."
Facts: Irgendwie ist
es verständlich, dass Sie das machten, anderseits...
Caballé: Es ist nicht
so, dass ich es machen wollte. Meine Welt ist die klassische Musik. Aber ich
habe in den letzten Jahren dazugelernt. Vielleicht durch die Krankheit. Jedenfalls
weiss ich heute, dass jeder Mensch die Freiheit und das Recht haben muss, seine
Gefühle zu leben und zu zeigen. Und schon vor 1985, vor dem Beginn meiner
Krankheit, hatte ich als "Sonderbotschafterin" für die Unesco
gearbeitet. Ich wusste also, wie viele Menschen ohne Nahrung, ohne Obdach,
krank und ohne Medikamente sind. Je mehr man macht, desto weniger ist es. Also
braucht es viele, dann ist man nicht mehr nur ein Sandkorn, sondern dann ist
man Teil einer Düne, und die kann etwas bewegen.
Facts: Und dabei
blieb die klassische Musik auf der Strecke?
Caballé: Falsch! All
zu viele Leute glauben, dass klassische Musik eine Welt ist, von der sie
ausgeschlossen sind, so etwas wie eine Welt der Apartheid. Als ich diese
Aufnahme mit Freddie Mercury machte, erlebte ich, wie wenig es braucht, dass
sich diese Leute für "meine" klassische Welt interessieren. 1988
signierte ich mit dem berühmten Dirigenten Claudio Abbado in Padua Platten. Die
Leute brachten stapelweise "Barcelona"-Platten. Abbado meinte:
"Du signierst heute mehr Exemplare davon, als ich im Jahr von der 9.
Sinfonie von Beethoven verkaufe!" Und diese Menschen kommen - zögerlich,
aber sie kommen - in die Konzertsäle. Und sie bringen mir nicht Popplatten zum
Signieren, sie kommen mit Aufnahmen von "La Bohème", "La
Traviata". Sie sagen: "Wir wollen diese Frau sehen, die so laut
schreit." Und damit beginnt doch alles.
Facts: Nicht zu
vergessen: Sie verdienen damit ein Wahnsinnsgeld!
Caballé: Nein! Von
"Barcelona" ging alles Geld, auch das von Freddie, an das Rote Kreuz.
Und von meiner neuen Platte "Friends for Life" sollen die
Paraolympics der Handicapierten profitieren. Ich habe in meiner langen Karriere
genug Geld verdient. Schon 1971 habe ich eine Stiftung gegründet, die sich
zurückgebliebener und behinderter Kinder annimmt.
Facts: Dann muss ich
mich bei Ihnen entschuldigen.
Caballé: Nein, denn
was Sie dachten, denken alle. Es ist auch üblich in meiner "Branche",
dass die Leute vor allem ihr Business machen. Im Übrigen habe ich in zehn
Jahren nur gerade zwei Popplatten aufgenommen. Ich tat es, weil es leichter
ist, solche Projekte mit Popkünstlern zu machen als mit meinen Kollegen von der
Oper. Ich wage gar nicht zu denken, wo das Projekt "Friends" gelandet
wäre, hätte ich es mit den "Freunden" aus der Klassik machen
wollen...
Facts: Über vierzig
Jahre Oper haben Ihnen offenbar alle Illusionen geraubt. Wie lange wollen Sie
denn überhaupt noch weiter machen?
Caballé: Wie meinen
Sie das?
Facts: Ihre Stimme
ist ja nach so langen Jahren immer noch in absolut fantastischer Verfassung.
Caballé: Was ich
heute singe im Konzert und manchmal in der Oper, das kann ich noch. Ich
versuche nicht, etwas zu singen, was nicht so schön klingen würde.
Facts: Wo sind denn
jetzt Ihre Grenzen?
Caballé: Für mich
muss es schön sein. Der Klang ist und bleibt für mich das Wichtigste. Solange
meine Stimme den Schmelz hat, denke ich, mache ich
weiter. Ich kann auch immer noch Arien mit dem hohen C singen, aber so schön
wie früher klingt das nicht mehr.
Facts: Es wird
schwieriger?
Caballé: Nein, diese
Töne sind für mich immer noch leicht - vor allem, wenn ich genügend übe. Bloss
fehlt ihnen heute die perfekte Schönheit, die sie einst hatten.
Facts: Sie haben
unglaublich viel erreicht. Sie sind eine der wenigen Sängerinnenlegenden des
zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr Name steht in der ganzen Welt für Qualität, für
Glamour, Charme, Witz, für Künstlertum. Wenn Sie drei Wünsche frei hätte, wofür
würden Sie diese einsetzen?
Caballé: Ich wünschte
mir, dass die Millionen von Menschen, die in der
Pop- und Rockwelt zu
Hause sind, auch die Oper kennen würden, dass sie erkennen würden, dass es im
Grunde immer dieselben Noten sind, nur ein bisschen anders kombiniert. Zum
zweiten: Ich habe einen Chor gegründet - eine Art "Weltchor" - mit
Menschen aus den verschiedensten Kontinenten. Mit dem Chor möchte ich durch die
Welt reisen und zeigen, dass es wichtigere Dinge gibt als Krieg, schiessen,
töten. Die Message lautet: "Wir sind Brüder." Die Erde ist
einzigartig, unser einziges Haus. Ich will damit nicht irgendwelche Stadien
füllen, sondern einfach zeigen, was Musik alles vollbringen kann, wenn sie von
Seele
zu Seele geht. Und
dann, das ist für mich sehr schwierig zu sagen: Ich würde gerne noch eine Weile
leben, vielleicht noch zehn Jahre. Das wäre wirklich schön.
Facts: Und wenn Sie
zum Schluss Ihrer Karriere nur noch ein einziges Stück singen dürften: Welches
müsste es sein?
Caballé: Der
"Liebestod" aus Wagners "Tristan und Isolde". Nur dies!